Friedrich Alfred Liebig - Ach Heti | wär` ich doch erst wieder da!
Als meine Großmutter Martha Pätz, geborene Liebig, im Sommer 1998 im Alter von 88 Jahren verstarb, erhielt ich aus ihrem Nachlass ein kleines verschnürtes Päckchen mit Feldpostkarten und einem handschriftlich verfassten Brief. Zunächst verschwand das kleine Päckchen erneut zwischen anderen Papieren und Büchern in meinem Schrank, bis ich dieses einige Monate später wieder entdeckte und es mich elektrisierte. Da schrieb ein junger Mann, damals noch jünger als ich heute, in den ersten Wochen des Ersten Weltkriegs an seine in Sande verbliebene Familie, seiner Ehefrau Elsche Margaretha, von ihm liebevoll Heti genannt, und seinen drei kleinen Töchtern Hermine, Martha und Anni. Ich selber, ebenfalls Vater von drei Kindern, erschauerte beim Lesen dieser Zeilen, war zutiefst ergriffen und verspürte das Gefühl, mehr über diesen mir unbekannten Menschen zu erfahren.
Aus Erinnerungen über Gespräche mit meiner Großmutter, die ich noch zu Lebzeiten mit ihr geführt hatte, und Befragungen anderer Familienangehöriger zur bzw. über die Person Alfred Liebigs konnte keine wissenschaftlich relevante biografische Rekonstruktion erfolgen, dies führte über die bloße Erkenntnis von Lebensdaten nicht hinaus.
Ein Dutzend Feldpostkarten waren die Ausgangslage für eine nachfolgend spannende historische Forschungsarbeit. Alle Feldpostkarten zeigten auf der Vorderseite französische Ortschaften. Zunächst besorgte ich mir Landkarten der Region Champagne im Maßstab 1:100000 und suchte die auf den Karten benannten Ortschaften. Anhand der von meinem Urgroßvater angegebenen Daten konnte man in verblüffender Weise im Vergleich mit den Regimentschroniken den Vormarsch der deutschen Truppen beim Vorrücken durch Belgien nach Frankreich erkennen. Fasziniert durch dieses Ergebnis wuchs der Drang, mehr zu erfahren über den Urgroßvater, von dem außer dem Namen und den dazugehörigen Lebensdaten kaum mehr bekannt und überliefert war.
Ausgehend von diesen wenigen Informationen begann ich nun, das Leben dieses mir bis dahin fast unbekannten Menschen zu rekonstruieren.
Es begann eine Reise in die Vergangenheit, die mittlerweile fast genau 100 Jahre zurück liegt. Ein Teil des Lebensschicksals des Werftarbeiters Friedrich Alfred Liebig wurde Stück für Stück dem Dunkel der Geschichte entrissen und ans Licht der Gegenwart gebracht. Wie in einem Puzzle fanden sich weitere Informationen, Begebenheiten und Quellen, diese fügten allmählich ein Bild eines Menschen zusammen, der selbst bis auf die erhalten gebliebenen Feldpostkarten keinerlei dokumentierte Spuren hinterlassen hatte.
Ergebnis der Forschungsarbeit war schließlich die Rekonstruktion der zwei letzten Lebensmonate des Werftarbeiters Friedrich Alfred Liebig, der sich Anfang August 1914 von seiner Familie in Sande verabschiedete und knapp zwei Monate später, am 26. September 1914 „auf dem Felde der Ehre“ als Landwehrmann des Oldenburger 91er Regiments bei der Erstürmung eines strategisch unbedeutenden Wäldchens nördlich der französischen Stadt Reims fiel.
Im September 2004, neunzig Jahre nach dem Tod Friedrich Alfred Liebigs in Nordfrankreich, begaben wir uns (Axel Wiese, Thomas Bolte, beide Jahrgang 1965, Urenkel Alfred Liebigs) auf die Spuren unseres im Weltkrieg gefallenen Urgroßvaters und fuhren in die Orte in der Champagne, die er in seinen letzten Lebenswochen im wahrsten Sinne des Wortes beim Vormarsch der deutschen Truppen durchschritten hatte.
In der Champagne bzw. in Frankreich ist der Erste Weltkrieg, ganz anders als in Deutschland, in den meisten Orten noch heute hautnah erfahrbar und bei vielen Franzosen präsent. Jeder Ort hat gepflegte, blumengeschmückte Kriegerdenkmäler, die oftmals jahrhundertealten Ortschaften sind vom Krieg gezeichnet. Die Franzosen sprechen über diesen Krieg vom Grande Guerre, dem großen Krieg. Alle paar Kilometer finden sich Soldatenfriedhöfe, französische, deutsche, britische, amerikanische. Die Friedhöfe sind alle in einem tadellosen Zustand, als Besucher erschauert man, wenn man die Zahlen der Gefallenen liest, die in die Zehntausende gehen. Kreuze, so weit das Auge reicht. In der Region Reims haben wir auf den besuchten Soldatenfriedhöfen besonders auf das Todesdatum unseres Urgroßvaters geachtet. Die Schlacht um das sogenannte 91er Wäldchen am 26./27. September 1914, nördlich von Reims gelegen zwischen den Ortschaften Courcy, Loivre und Thil, forderte zahlreiche Menschenleben. Allein das Oldenburger 91er Regiment verlor am 26.September 1914 weit über 100 Soldaten. Auf den Friedhöfen findet man aber nicht nur Oldenburger, sondern zahlreiche andere deutsche Gefallene aus anderen Regionen, der bekannteste auf deutscher Seite sicherlich der Heidedichter Hermann Löns, und ebenso viele Franzosen, die an diesem Tag ihr Leben lassen mussten.
Wir haben das von den Oldenburger Soldaten später so genannte 91er Wäldchen anhand einer Handskizze zwischen den besagten Ortschaften ausgemacht und wiedergefunden. Vom Fort Brimont aus, wo die Oldenburger Soldaten die Nacht verbracht hatten, liegt südlich die Stadt Reims in einem flachen Tal. Die Oldenburger Soldaten überquerten im Morgengrauen den Marne-Aisne-Kanal und hatten den Befehl, eine Anhöhe, das Massif de Thierry nordwestlich von Reims gelegen, einzunehmen. Zwischen dem Kanal und der Anhöhe befand sich ein kleines Wäldchen mit drei Pappeln, in dem eine französische Einheit in Deckung lag. Das Gelände ist derart übersichtlich, dass die ungeschützten deutschen Soldaten keine gute Überlebenschance beim Ausführen dieses Befehls besaßen. Erschütternd für uns war das Vorfinden von drei Pappelbäumen an jener Stelle, so wie es im Gedicht „Das 91er Wäldchen“ beschrieben wird.
Wir haben ferner versucht, eine Grabstelle Friedrich Alfred Liebigs zu finden. Offiziell ist kein Einzelgrabmal für ihn angelegt, da seine Erkennungsmarke und Gebeine nicht eindeutig zugeordnet werden konnten, so die Auskunft des Volksbundes für Kriegsgräberfürsorge. In den zwanziger Jahren wurden für diese Gefallenen sogenannte Kameradengräber angelegt.
Unsere Frankreichreise haben wir bewusst zur gleichen Jahreszeit im September unternommen, wir wollten eine möglichst ähnliche Stimmung erleben, hinsichtlich des Wetters und des Klimas. Die Champagne ist eine wunderbare Landschaft, sanfte Hügel durchziehen das Land, Weinberge, so weit das Auge blicken kann, helle, kreidekalkige Erde, Markenzeichen der Champagne, und neben dem Klima verantwortlich für das Gelingen des Hauptprodukts der Region: des Champagners. Die Flüsse der Region (Marne und Aisne), die für die Schlachten des Ersten Weltkriegs Namensgeber wurden, fließen heute, ebenso wie vor neunzig bzw. hundert Jahren, ruhig durch seichte Täler, an den aufsteigenden Höhen malerisch gelegene Weinberge.
Während sich in Friesland in der zweiten Septemberhälfte im Jahr 2004 der Sommer bereits dem Ende zuneigte, erlebten wir in der Champagne einen herrlichen Spätsommer mit Tagestemperaturen bis fast 30 °C und wir stellten uns permanent die Frage: „Wie konnte es geschehen, dass sich Franzosen und Deutsche in dieser wunderbaren Landschaft gegenseitig industriemäßig massakrierten?“
Wir suchten die französischen Ortschaften auf, die die Vorderseiten der Feldpostkarten zierten und stellten, einem Dja-vu-Erlebnis ähnlich, fest, dass die Motive der Postkarten, trotz der massiven Kriegszerstörungen, zum Teil bis in kleine Details noch vorhanden waren (vergleiche Postkarten und Fotos Sept.2004)
Auf den Spuren eines Vorfahren in der Champagne zu wandeln, einer Region, die zum Symbol und Inbegriff eines industriell geführten Krieges wurde, sich in die damalige Kriegs- und Lebenssituation eines Menschen hineinzuversetzen, dessen Existenz erst die eigene ermöglichte, sich selber in einer solchen Lage vorzustellen, schärft wieder den Blick für das Wesentliche im Leben und dafür, was das Wörtchen Krieg an Schrecklichem und Perversem bedeutet.
Other
Ach Heti, wär` ich doch erst wieder da!
Werftarbeiter Friedrich Alfred Liebig aus Sande bei Wilhelmshaven
Deutsch
Mein Aufsatz über meinen Urgroßvater Friedrich Alfred Liebig habe ich im Mitteilungsblatt der Oldenburgischen Landschaft Das Land Oldenburg, Heft Nr. 118, IV. Quartal 2003, S. 14-19, veröffentlicht.
Magyar
CONTRIBUTOR
Axel Wiese
DATE
1914 - 1914-09-26
LANGUAGE
deu
ITEMS
23
INSTITUTION
Europeana 1914-1918
PROGRESS
METADATA
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