Brief von Alfred Meissner vom 22.10.1915
Alfred Meissner war ein Freund meines Vaters Otto Schiel. Sie hatten sich als Lehrlinge in der Stralsunder Bogenlampenfabrik kennengelernt. Wenig später traten sie dem Evangelischen Männer- und Jünglingsverein Stralsund bei. Es verging wohl kein Tag, an dem die beiden jungen Leute nicht dort einkehrten. Man spielte Theater, besprach die Bibeltexte, lernte gutes Benehmen, man sprach viel von Ritterlichkeit und Anstand, von Treue zum Vaterland, der Liebe zur Natur und dem Respekt vor Gott, dem Kaiser und den Eltern. Kurzum, hier sollten junge Leute erzogen werden, die ein neues Jungdeutschland aufbauen wollten, in dem es keine Verbrechen mehr geben würde. Man träumte von einem idealen Staat mit lauter idealen Menschen. Dann kam der Krieg. Die schönen Illusionen prallten mit ungeheurer Wucht auf die zarten Seelen dieser unerfahrenen Jünglinge. Im Schlamm und Dreck, im Kugelhagel und Granatfeuer starben Ethik und Moral. Man dachte nur noch ans eigene Überleben. Alfred Meissner ging als Infanterist durch die Hölle von Flandern. Ringsum fielen die Kameraden. Er selbst wurde verwundet, kam nach Krefeld, wo er am 22. Oktober 1915 an meinen Vater nach Stralsund seine jüngsten Erlebnisse im Krieg schilderte.
Krefeld,22. Oktober 1915.
Marienheim.
Mein lieber Otto!
In meiner Karte von heute versprach ich Dir einen Brief. Zunächst will ich Dir von meinem Aufenthalt in Frankreich erzählen. - Am 30.9. waren wir nach Brügge gefahren, hofften auf 14 Tage Ruhe als Armeereserve, doch am 2.10. abends, ich komme mit Max Hoffmann vergnügt aus Messners Kriegskino, (nach 10 Monaten einmal) da werde ich doch verständigt: Alarm! Also ins Quartier, der Affe wird gepackt. 10 Uhr feldmarschmäßig angetreten. Auf dem Marktplatz vor dem Belfast, dem alten Burgturm, versammelt sich das II. Bataillon. Im Gebäude des Generalkommandos des Marinekorps, wo Admiral Schröder sitzt, brennt Licht. Die arbeiten und mit dumpfem Schritt geht es durch die alten Gassen, vorbei an alten Giebelhäusern, in denen einst stolze flandrische Kaufleute gewohnt.
BAHNHOF! EINSTEIGEN! ABFAHRT! Wohin? An welchem Teil unserer 4. Armee hat der Feind angegriffen? Doch nicht etwa in der Kanalstellung, bei Dry Grachten? - Es heißt, nach Middelkerke! Und der Zug rollt durch die Nacht. Uns fröstelt. Da, Lichter! Ein großer Bahnhof. Lille? Also doch in Frankreich. Na, dann man zu nach Arras, so denken wir. Bis zum Morgen geht die Fahrt. Da steigen wir in Billy Montigny aus. Ödes französisches Industriedorf. Die Essen rauchen. Das Bataillon setzt sich in Marsch. Es geht bergauf, bergab. In der Ferne Fesselballons. Dort ist die Front. Über Harnes, Annay geht der Marsch nach Pont à Vendin, wo wir im Hof einer Fabrik Fliegerdeckung nehmen müssen. Es geht weiter nach Estevelles. In einem großen Zelt, sonst von der Artillerie als Stellung benutzt, rasten wir. Unsere Küche bereitet das Mittag, Kohl. 8.15 Uhr ist Kompagnie antreten! Kurze Meldung. Ohne Tritt Marsch! Vor uns steigen Leuchtkugeln auf. Dort ist die Front. Dann sausen ein paar Granaten zu der bei einem Gehöft stehenden Batterie. 21 cm Mörser. - Weiter. In Augustin wird Halt gemacht. Die Offiziere pochen an die Türen. Weiber im Schlafrock oder alte Kerle öffnen mürrisch. Quartier. Gruppenweise in den Häusern verteilt. Das war 10.30 Uhr. Na, nun könnt Ihr Euch ausruhen bis morgen, sagt Leutnant Schneider, Führer des 2. Zuges, zu uns. Da ruft der Battl.-Adjudant: 11.00 Uhr steht das Battl. im Schanzanzug beim Pfarrhaus. - Hm, hm - Es geht raus. Einige hundert Meter hinter der Front soll eine Reservestellung angelegt werden. Also Schanzzeug raus! - Donnerwetter, das ist ja Kalkstein? Wir hatten noch den flandrischen Lehm in Erinnerung, aber den harten Stein mit einem kleinen Spaten bearbeiten, ist gerade nicht leicht. Um 2.30 Uhr rücken wir ab.
Am 4.10. blieben wir in unserem Quartier, um abends in Stellung Loos abzulösen. Sumpfige Stellung. Es geht bergan. Endlich da. Der 2. Zug steht in einem Laufgraben, der im rechten Winkel zur Stellung läuft. Im Falle, daß die Engländer in den 1. Graben eindringen, sollen wir sie sofort hinauswerfen! Der Graben, in dem wir stehen, ist 1,50 m tief und 0,50 m breit, ohne jegliche Unterstände im Kalkstein, ohne Schützenstände.
Noch in der selben Nacht schanzt der 2. Zug in der 1. Linie. Am Morgen geht alles in den Rigelgraben, wie unsere Stellung heißt. Es beginnt zu regnen. Wir spannen die Zelte aus, hüllen uns den Mantel um und versuchen zu schlafen. Schrapnells und Granaten pfeifen herüber. Es wird wieder Nacht. 2 Mann von jeder Gruppe gehen zum Essenholen, die anderen schanzen, einige müssen Handgranaten vom Battl. Gefechtsstand holen. Eichenbohlen zum Bau eines Kompagnieführer-Unterstandes werden geschleppt. Die Nacht rinnt dahin. - Die Nacht am 8.10. rinnt ebenso dahin.Durch ein Mißverständnis werden der Unteroffizier Heitmann und Leutnant Schmidt verwundet. Nachts rücken wir neben den 1. Zug, der 7. Komp., sie muß Platz machen. Wieder Arbeit und endlich dämmert der Morgen. Unsere Horchposten vor dem Drahtverhau sind eingezogen. Tageswache zieht auf. Dunkles Gerücht zieht durch die Komp. Morgen soll gestürmt werden. Dann kommt Leutnant Anaritsch und bestätigt das Gerücht. Er berichtet:
Tornister werden heute Nacht zum Bataillon gebracht, Sturmgepäck gemacht, morgen rückt die Kompanie in die neue Rigelstellung. des Battl. geht in die 1. Linie in 2 Staffeln, dieser folgen als 3. Staffel der 2. Zug. Nimmt großes Schanzzeug mit.\n Um 6 Uhr morgens wandert die Kompagnie in die Rigelstellung. 2 Gruppen von Pionieren sind unserem Zuge zugeteilt. Dichtgedrängt stehen wir im Graben. Langsam schleichen die Stunden. Angesagt wird: um 6 Uhr beginnt der Sturm (nachmittags). Unsere Artillerie bereitet vor und zwar 2 von den 42 cm Mörsern, eine Motorbatterie, 18 schwere und 13 leichte Batterien, das hört sich fein an. -1.30 Uhr: Unsere Artillerie beginnt zu feuern. 2.30 Uhr: Das Feuer ist mäßig. 3.30 Uhr: Leichte Batterien feuern überwiegend, die englische Artillerie ist fast still. 4.30 Uhr: Feuer unserer Batterie schwächt ab. 5.00 Uhr: Erste Sturmwelle geht vor. Rrrrr. Ein ohrenbetäubendes englisches Infanteriefeuer setzt ein und dann rattern die Maschinengewehre, abgehackt, unheimlich. Die Sturmreihe lichtet sich.-- 2. Sturmwelle vor. Sssst. So sausen die Geschosse und die 2. Sturmwelle bricht im Eisenhagel zusammen.--- 3.Sturmwelle vor. Sssst. Rrrrr. Bumm - da kommen die englischen 28 cm und 30,5cm Granaten dazwischen. Der Eisenhagel zwingt die 3. Sturmwelle zurück in den Graben. - Abgeschlagen der Angriff, besiegt wir, das Regiment 216, das an der Yser so zäh gefochten hat. Und wieder heult so'n Biest heran. Der Eisensplitter dringt mir in den Rücken. Ein großer Eisenkanten schlägt mir auf den Oberschenkel, seine scharfen Ecken graben sich ins Fleisch. Das englische Feuer steigert sich. Werden sie einen Gegenangriff machen?--- Der Tod hat so reiche Ernte gehalten.Viele Kameraden sterben da draußen in Frankreichs harter Erde. Unser Hauptmann ist verwundet. Leutnant Keller gefallen, Leutnant Anaritsch verwundet.---
Um 8 Uhr läßt das Feuer nach und ich wanke mit Max Hoffmann, der auch was abgekriegt hat, durch die Stellung. Röchelnde Verwundete, kein Mann auf dem Schützenstand, ein paar Drückeberger dort, die immer die große Schnauze vom Engländerfressen hatten, sitzen nun im bombensicheren Zugführer-Unterstand.----
Zum Sanitätsunterstand schleichen wir. Das Blut rieselt so warm aus der Wunde. Egal, bloß weg hier - weiter. Noch immer Sperrfeuer auf die Straßen!
Verbandsplatz Inf.Reg.153. Wir verbinden keine von 216. - Waaas? Also weiter. Verbandsplatz 216: Kameraden, wer sich schleppen kann, gehe bis St. Augustin! Und wir Müden wanken weiter. St. Augustin. Verband drauf, fertig. Such dir Quartier, wir haben keinen Platz mehr! Bei Telephonisten unseres Regimentes schlafen wir die Nacht. Am Morgen geht's die Landstraße weiter bis Estevelles, wo unsere Küche steht.-- Ausgeruht und mit dem Postenwagen nach Harmes gefahren. Im Feldlazarett 9 nachgesehen, auf's Auto nach Lille ins Feldlazarett III. Bis zum 13.10. war ich dort, kam dann nach Deutschland, wo ich in Krefeld am 14. abends landete.----
So, mein Junge, daß wäre so ein Bild vom Feldzug. Nun plaudern wir von anderen Dingen...... Wenn ich heimkomme, erzähl ich Dir um so mehr von dem.... draußen.....
Es ist schon spät, ich muß bald schließen. Es ist heut allerlei, was ich Dir geschrieben habe. Ein anderes Mal erzähl ich Dir mehr und Du wirst mir einen l.......
Brief schreiben, recht bald, was?
Wie steht es bei Dir zu Hause, was machen Eltern und Geschwister? Grüße sie bitte, wenn Du in Stralsund bist, von mir.
Nun sei herzlichst gegrüßt
Von Deinem getreuen
Alfred
CONTRIBUTOR
Eberhard Schiel
DATE
1915-10 - 1915-10-22
LANGUAGE
deu
ITEMS
1
INSTITUTION
Europeana 1914-1918
PROGRESS
METADATA
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Alfred Meissner
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Die ganze Tragik der jungen Soldaten des Ersten Weltkrieges wird im ergreifenden Schicksal des Alfred Meissner deutlich. An seinem 18. Geburtstag meldete er sich spontan als Kriegsfreiwilliger an. Über seine Motive befragt, antwortete er seinem Freund Otto Schiel: Ich tue es für die Heimat, und das sagt mir alles. Sterben kann ich immer einmal, doch einen Heldentod sterben, das ist mir nur jetzt vergönnt. Eine solche Einstellung erklärt zum Teil den unerschrockenen Mut und die Kraft für die unsagbaren Strapazen eines Infanteristen. Alfred Meissner bekam übrigens ausreichend Gelegenheit, seine Tapferkeit unter Beweis zu stellen. Er machte fast alle schweren Kämpfe an der Westfront mit. Drei Mal wurde er verwundet.Doch was der Feind aber nicht schaffte, - eben, seine Kampfmoral zu brechen - das erreichte die Absage von zwei jungen Freundinnen, um deren Liebe er vergeblich warb. Erst dann erlosch seine Lebenslust, seine Energie und Moral. Er wollte nur noch als Held sterben. Das Schicksal tat ihm diesen Gefallen. Er erlag in einem Lazarett in Nürnberg seinen schweren Verwundungen.
Brief vom Unteroffizier August Adolph von der Westfront
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August Adolph war Unteroffizier der Reserve und gehörte der 1. Kompanie des I. Musketen-Bataillons der 29. Infanterie-Division an, die sich im November 1915, zum Zeitpunkt des Verfassens des Briefes, in den Stellungskämpfen in der Champagne befand. Den Brief sandte er am 29. November 1915 an einen Herrn Harden in Bremen. In dem Brief bedankt sich Adolph für die Bemühungen, die Harden bezüglich einer nicht näher beschriebenen Sache unternommen hat. || Ein Brief von August Adolph an einen Herrn Harden in Bremen vom 29. November 1915.
Der letzte Brief von Fritz Apsel vom 24. April 1918
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Brief und Lebensbeschreibung || Fritz Apsel wurde am 8. Juni 1893 in Grodzisko, später Schloßberg, Kreis Angerburg in Ostpreußen, geboren und besuchte bis zu seinem 14. Lebensjahr die Volksschule. Anschließend verbrachte er drei Jahre auf der Prägerandenanstalt in Lötzen und weitere zwei Jahre beim Seminar in Angerburg. 1912 kam Fritz unangemeldet nach Hause und verkündete, dass er nicht mehr Lehrer werden wollte, woraufhin die Mutter zu schimpfen begann, der Vater hingegen sagte nichts und verbarg eine stille Freude. Apsel trat im selben Jahr als Freiwilliger bei der 3. Kompanie des 1. Bataillons im Infanterie-Regiment Nr. 44 in Goldap ein. Es ist nicht bekannt, ob er schon gleich zu Beginn des Krieges ins Feld kam und die Schlacht bei Tannenberg mitmachen musste, sicher ist jedoch, dass er ab 1915 an zahlreichen Gefechten in Russland teilnahm, u.a. bei Gefechten an der unteren Dubissa (in Rossienie, Sawdyniki, Cytowiany), bei der Schlacht um Schaulen (24.07.1915) und bei der Schlacht bei Kupischki (30.07.-07.08.1915). 1916 arbeitete Apsel bei der Kassenkommission in Goldap. Verwundet war er nicht. 1916/17 kam er zum Kronprinz Grenadier-Regiment I. in die 10. Kompanie nach Königsberg. Ab hier beginnen seine Tagebücher. Im Jahr 1918 wurde er zum Sergeant befördert. Seiner Schwester Hedwig schrieb er einen Tag vor seinem Tod einen letzten Brief. Fritz Apsel fiel am 25. April 1918 um vier Uhr nachmittags bei einem Patrouillenunternehmen in der Nähe des Dorfs Villers-Bretonneux, östlich von Amiens, durch Maschinengewehrschüsse am Hals und an der rechten Hand.